Die Zivilisationen mĂŒssen die organisierte Gewalt fĂŒrchten, die sie trotz aller WidersprĂŒche und historischen Erfahrungen dulden. Inspiriert von Rassismus, Nationalismus und ideologischem GröĂenwahn ermordete dieses Monster allein im 20. Jahrhundert planvoll ĂŒber 260 Millionen Menschen.
Durch die weltumspannende Diktatur des Profits, die die Ideologien ablöste, wurde der letzte Lebenszyklus des Kapitalismus erreicht: der totale Imperialismus.
Die von unterschiedlichsten Regimen angeordneten oder geduldeten vorsĂ€tzlichen Massentötungen von bestimmten Menschengruppen vereinte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph J. Rummel unter dem Begriff Demozid (1). Die von Rummel fĂŒr das 20. Jahrhundert aufgestellte Statistik â20th Century Democideâ, in der sich der industrielle Massenmord der Nazis ebenso findet wie der Terror des Stalinismus, die Blutspur der Roten Khmer in Kambodscha, das Grauen des Kolonialismus oder der Massenmord an den Kommunisten in Indonesien, zeichnet einen Leichenberg aus 260 Millionen Toten. Dennoch ist es nur ein Ausschnitt dessen, was organisierte Gewalt anrichtet, weil auch jede Form des Krieges organisierter Massenmord ist.
Der groĂe Sprung
Rummel klammerte in seiner Definition die Toten aus, die auf das Konto von internationalen Kriegen und innerstaatlichen BĂŒrgerkriegen gehen, und fast alle Leichen, die eine unbeabsichtigte Nebenerscheinung von Regierungshandlungen gewesen sind. Beispielhaft fĂŒr diese Art der âfahrlĂ€ssigenâ oder âunbeabsichtigtenâ Massenvernichtung steht die Ende der 1950er-Jahre in China einsetzende Hungersnot.
Der Tod von geschĂ€tzt rund 20 bis zu 50 Millionen Menschen war ein Resultat des gescheiterten und als âGroĂer Sprung nach vornâ bekannten Versuchs, die Volksrepublik binnen weniger Jahre in ein Paradies der Stahlindustrie zu verwandeln. Trotz des Nahrungsmangels, der durch die VernachlĂ€ssigung der landwirtschaftlichen Produktion und in Kombination mit DĂŒrreperioden einsetzte, wurde an dem Vorhaben bis Anfang der 1960er-Jahre festgehalten.
Den industriellen RĂŒckstand gegenĂŒber den kapitalistischen Staaten zu verringern, sich von der UdSSR weiter zu emanzipieren und am Ende eigene FehleinschĂ€tzungen zu verschleiern, war dem Regime wichtiger als Menschenleben. Ein Hilfsangebot der Sowjetunion wurde abgelehnt.
Entsprechend dieser historischen Erfahrung lĂ€sst sich organisierte Gewalt nicht nur unter anderem durch die theoretische Planung, sachliche Vorbereitung und die spezifische AusfĂŒhrung von Massentötungen kennzeichnen, die durch Strukturen und Einrichtungen â MilitĂ€r, Polizei, Geheimdienste, paramilitĂ€rische Einheiten, Todesschwadronen und so weiter â erfolgen, die allein oder (arbeitsteilig) im Verbund handeln. Auch die âungewollteâ Massenvernichtung, eine Art Betriebsunfall im realpolitischen Ablauf, ist ohne die Beihilfe der organisierten Gewalt nicht denkbar.
Zwischen Killing Fields und Todesfabriken
Die systematische Zerstörung von moralischen und humanistischen Werten und die Fokussierung auf ein Feindbild gehen der bewussten oder fahrlĂ€ssigen Vernichtung voraus. Zur Beseitigung von Widerstand und zur intellektuellen Gleichschaltung der Massen, wahlweise als Staatsvolk oder SouverĂ€n bezeichnet, erschaffen kulturelle, politische und juristische Instanzen eine kĂŒnstliche Legitimation wie zum Beispiel im Dritten Reich durch die Installation der Rassengesetze (2). Die Verrechtlichung des Unrechts sorgte fĂŒr die Befreiung von persönlicher Schuld, die Uniform der Pflicht fĂŒr ein sauberes Gewissen.
Diese Kombination hat Langzeitwirkung. Noch nicht einmal unter dem geschichtlichen Eindruck der NS-Todesfabriken oder den Killing Fields im Demokratischen Kampuchea wurden die Strukturen der organisierten Gewalt weltweit beseitigt. Costa Rica zeigte, dass es möglich ist. Die Armee wurde am 1. Dezember 1948 abgeschafft (3). Die Verfassung verbietet die Aufstellung von StreitkrĂ€ften in Friedenszeiten. 1983 erklĂ€rte das Land seine dauerhafte NeutralitĂ€t. Ausgaben fĂŒr âVerteidigungâ gibt es im Staatshaushalt nicht. Das Geld wird in das Gesundheitswesen und die Bildung investiert (4).
Trotz seiner radikalen Entmilitarisierung konnte sich Costa Rica dem Sog der Gewalt nicht entziehen. Im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg, einem Produkt unter anderem der Massenverelendung in Lateinamerika und der steigenden Nachfrage nach Drogen in den USA und Europa, wurden Mitte der 1990er-Jahre paramilitĂ€rische Einheiten aufgestellt, um den Drogenschmuggel in den Grenzregionen zu Nicaragua und Panama zu unterbinden. 2010 kamen trotz massiver Proteste US-amerikanische MilitĂ€reinheiten ins Land, um den Kampf gegen die Rauschgiftkartelle zu unterstĂŒtzen und humanitĂ€re Hilfe zu leisten. So war zumindest die offizielle ErklĂ€rung fĂŒr die zeitweise Stationierung von ĂŒber 40 Kriegsschiffen, Kampfhubschraubern und 7.000 US-Marines (5).
Die Schneide des Rasiermessers
Gewisse Ăhnlichkeiten zu den wirtschaftlichen Zielen, die das Regime in China unter Mao Zedong mit dem âGroĂen Sprungâ verfolgte, sind in den gegenwĂ€rtigen Anstrengungen westlicher Volkswirtschaften auszumachen. Mit der Brechstange versuchen sie, sich in digitale Wirtschaftsstandorte zu âtransformierenâ, um die fortschreitende Deindustrialisierung, die im Zusammenhang mit dem angeschlagenen Finanzkapitalismus zu sehen ist, aufzufangen. Durch mehr oder minder wirksame infrastrukturelle und ökologische Anpassungen wird ein wirtschaftlicher Aufbruch inszeniert. Dabei haben sich die Staaten schon hoffnungslos in einem Netz aus WĂ€hrungsabwertung, Defizit und Vermögensblasen verfangen.
Fabio Vighi beschreibt in dem Sammelband âCOVID-19 und die Pandemie als Amoklauf des Finanzkapitalsâ (pad-Verlag) das Szenario, das sich vor aller Augen entfaltet:
âDie Wahl, vor die wir gestellt werden, ist dieselbe, die wir in der Geschichte der fortgeschrittenen Industriegesellschaften gesehen haben: Inflation oder Deflation. Entweder wird Geld als allgemeines Ăquivalent abgewertet (Inflation), oder der Abwertungsprozess wirkt sich direkt auf das Kapital aus, sodass die Produktion (Fabriken und Arbeiter) plötzlich ĂŒberflĂŒssig wird. Anders als in der Vergangenheit bedeuten heute jedoch sowohl Inflation als auch Deflation eine Entwertung des Fiat-Geldes mit dem zusĂ€tzlichen Bonus eines Systemzusammenbruchsâ (6).
Dass die nachlassende KonkurrenzfĂ€higkeit gegenĂŒber Nationen wie China, Indien oder Brasilien zu kompensieren sei â das heiĂt, ein signifikantes Wachstum der westlichen Realwirtschaft eintritt, das die Fata Morgana der Börsenrallys vertreibt â, ist Wunschdenken. Das Finanzsystem ist kaputt und befindet sich an einem Kipppunkt. Fabio Vighi spricht von einer âAlles-Blaseâ, entstanden durch die Flutung der maroden FinanzmĂ€rkte mit âmagischem Geldâ:
âDa immer mehr Geldspritzen nötig sind, um die Schuldenblase zu stĂŒtzen, die die FinanzmĂ€rkte vor dem Zusammenbruch bewahrt, muss die reale Nachfrage gedrosselt werden, um einen Inflationsschub zu verhindern, der leicht aus dem Ruder laufen könnte. (âŠ) Was uns bleibt, ist eine Produktionsweise, die nur aus Hut und Cowboy besteht, ein stotternder Wirtschaftsmotor, der seine Ohnmacht leugnet. Doch wir können sicher sein, dass auch die aktuelle âAlles-Blaseâ platzen wird, genau wie die vorangegangenen. Und da das Volumen des fiktiven Kapitals heute viel gröĂer ist als je zuvor, wird die Verpuffung noch viel heftiger ausfallenâ (7).
Nach einem Crash, der die WĂ€hrungen pulverisieren wĂŒrde, wĂ€ren Unruhen, AufstĂ€nde und andere Konfliktformen bis hin zu Revolutionen in den Entwicklungs- und den IndustrielĂ€ndern die Folge. Ăberall wĂŒrden die bestehenden Herrschaftssysteme und die Diktatur des Profits von den revoltierenden Volksmassen herausgefordert. Diesen aufziehenden Orkan gilt es seitens des Systems zu verhindern oder ihn zumindest abzuschwĂ€chen.
Vighi schreibt, dass die âFinanzscharade nur fortgesetzt werden kann, wenn die in die Höhe schieĂenden SchuldenbestĂ€nde umgeschichtet werdenâ. Dazu sei die Hilfe einer endlosen Abfolge von âexogenen âUnfĂ€llenâ erforderlich â eine Strategie, die inzwischen so verzweifelt ist, dass sie sogar in Massenmord durch Kriegsexpansion oder andere Mittel gipfeln könnteâ.
Werden die Varianten der organisierten Gewalt zu Kompensationsmitteln fĂŒr das fiktive Kapital, balanciert die Menschheit auf der Schneide eines Rasiermessers. Seine SchĂ€rfe zeigt sich, wenn Marktwirtschaft und Gewalt aufeinandertreffen und die materialistischen Aspekte beachtet werden, die das Streben nach Profit hervorbringt.
Auf den MĂ€rkten der Gewalt
Der deutsche Ethnologe Georg Elwert (1947 bis 2005), der den Begriff Gewaltmarkt in die Sozialwissenschaften einfĂŒhrte, erkannte bei seinen Analysen die politische Strategie, Gewalt in sozialen RĂ€umen zu nutzen beziehungsweise zweckorientiert einzusetzen, um marktwirtschaftliche Interessen zu befriedigen.
Das gelingt insbesondere in Staatskonstruktionen, in denen ein umfassendes Gewaltmonopol nicht mehr existiert, weil es zerfallen ist, sich zurĂŒckzieht und auch kein anderes Regime in der Lage ist, ein neues Gewaltmonopol durchzusetzen. Die Darstellung ist sehr grob, erlaubt aber eine Orientierung, warum sich Kriege, BĂŒrgerkriege, innerstaatliche und sonstige bewaffnete Konflikte teilweise ĂŒber Jahrzehnte hinziehen, obwohl eine politische Einigung und Frieden in greifbarer NĂ€he zu sein scheinen.
In Myanmar beispielsweise, besser bekannt als Burma, beseitigte der britische Kolonialismus Ende des 19. Jahrhunderts quasi mit der Waffe in der Hand die natĂŒrliche Ordnung. Das Gebiet wurde eine Provinz von Britisch-Indien. Um sie besser kontrollieren und ausbeuten zu können, wurde versucht, eine Verwaltungsstruktur zu installieren. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde die Region in SĂŒdostasien weder geographisch noch politisch als Einheit betrachtet. Unterschiedliche Ethnien besiedelten das Gebiet, das an Laos, Thailand, China, Indien und Bangladesch grenzt.
Ăhnlich wie in Afghanistan Ă€nderte die Kolonialmacht die traditionellen VerhĂ€ltnisse und importierte ein ihm dienliches bĂŒrokratisches Staatswesen. Die aufgezwungene neue Ordnung setzte sich aber nicht durch. Der Drang nach UnabhĂ€ngigkeit war gröĂer als die Bereitschaft, sich einem Aggressor zu unterwerfen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab GroĂbritannien seine kolonialen Bestrebungen auf. ZurĂŒck blieb ein fragiles Staatsgebilde.
Seit der UnabhĂ€ngigkeit 1948 (!) kĂ€mpfen bewaffnete Rebellengruppen aus unterschiedlichsten ethnischen Minderheiten mehr oder weniger intensiv fĂŒr ihre Autonomie und UnabhĂ€ngigkeit. Ihr Feind ist die Zentralregierung, in der Gegenwart eine MilitĂ€rjunta, die versucht, ihre Machtposition mit Hilfe ihrer Armee und verbĂŒndeter Milizen zu erhalten. 2021 eskalierte der Konflikt. Es entwickelte sich ein BĂŒrgerkrieg, der von allen Seiten mit Ă€uĂerster BrutalitĂ€t und Verbissenheit gefĂŒhrt wird. Die Ausgaben fĂŒr MilitĂ€r, Polizei und Geheimdienste machen ĂŒber 50 Prozent des Staatsbudgets aus. Die zivile Wirtschaft und das Gesundheitswesen sind weitestgehend zusammengebrochen. Die Zentralregierung kontrolliert weniger als 20 Prozent des Landes. Der Staat fĂ€llt auseinander.
Alle Konfliktparteien haben eine Gemeinsamkeit: Sie brauchen Geld, AusrĂŒstung, Waffen und Munition. Das ist ein Baustein fĂŒr die Etablierung eines Gewaltmarktes und der NĂ€hrboden fĂŒr die organisierte KriminalitĂ€t.
Drogenhandel, GlĂŒcksspiel, Online-Betrug und der Schmuggel von Holz und Edelsteinen gehören zu den Finanzierungsquellen. Die Volksrepublik China, die im Arakan-Staat, einer der 15 Verwaltungseinheiten von Myanmar, mit dem Tiefseehafen Kyaukphyu am Indischen Ozean als Umschlagplatz fĂŒr Erdöl und Erdgas eigene Wirtschaftsinteressen verfolgt, liefert, was der Gewaltmarkt vor seiner HaustĂŒr benötigt. Praktisch alle Konfliktparteien sind als Kunden willkommen.
Der zivilisatorische RĂŒckschritt
Wo externe Akteure wie Söldnerfirmen, War Lords, WaffenhĂ€ndler und so weiter â aber auch Staaten und Konzerne, die sich den Zugriff auf Ressourcen sichern wollen oder geopolitische und -strategische Absichten verfolgen und dafĂŒr auf die Dienste von beispielsweise MilitĂ€rfirmen zurĂŒckgreifen â in einen Konflikt eintreten, dessen Ausgangspunkt politischer, ethnischer oder religiöser Natur gewesen ist, kann das ökonomische Motiv des materiellen Profits die Oberhand gewinnen.
Zur Befriedung des Konflikts werden die genannten Akteure nichts Substanzielles beitragen, weil sie kein Interesse daran haben können, dass die Auseinandersetzungen, von denen sie materiell partizipieren, ein Ende finden.
Dieser Effekt wird verstĂ€rkt, je mehr die vormals âfriedlichenâ Bereiche der Wirtschaft zerfallen. Kehrt keine ĂŒberdauernde Beruhigung ein, sodass sich Handel, Produktion und Verwaltung stabilisieren und Versorgungssicherheit eintritt, blutet das Gemeinwesen aus. Krieg â und seine AuswĂŒchse â wird fĂŒr signifikante Teile der Bevölkerung zur einzigen Option, um Einnahmen zu erzielen und das eigene Ăberleben zu sichern. Das hat langfristig fatale Konsequenzen.
Gescheiterte Staaten, âfailed statesâ, wie Somalia, der Sudan oder Libyen, das nach dem Sturz und der Ermordung von Muammar al-Gaddafi immer tiefer im BĂŒrgerkrieg versank und 2014 in einen West- und einen Ostteil zerbrach, sind nicht nur TummelplĂ€tze fĂŒr bewaffnete Banden, MenschenhĂ€ndler, Waffenschieber und andere kriminelle Gruppierungen. Sie sind Ausdruck eines gravierenden zivilisatorischen RĂŒckschritts und gesellschaftlichen Verfalls, der nicht mehr kompensiert werden kann. Genauer gesagt: Die Diktatur des Profits, die sich durch die Ăkonomie der Gewalt zu retten versucht, geht zum totalen Imperialismus ĂŒber und frisst die Staatsgebilde auf.
Text von: Gunther Sosna
Quellen und Anmerkungen:
(1) Rudolph Joseph Rummel: 20th Century Democide. VerfĂŒgbar auf http://www.hawaii.edu/powerkills/20TH.HTM, abgerufen am 16.2.2025.
(2) Dokumente des Nationalsozialismus. VerfĂŒgbar auf https://www.servat.unibe.ch/dns/dns_tant.html, abgerufen am 16.2.2025.
(3) taz (4.7.2010): Blanko-Scheck zur Invasion. VerfĂŒgbar auf https://taz.de/US-Truppe-im-entmilitarisierten-Costa-Rica/ !5139667/, abgerufen am 17.2.2025.
(4) Trading Economics: Wirtschaftsindikatoren von Costa Rica. VerfĂŒgbar auf https://de.tradingeconomics.com/costa-rica/indicators, abgerufen am 17.2.2025.
(5) America21 (9.7.2010): Massive MilitĂ€rprĂ€senz der USA in Costa Rica. VerfĂŒgbar auf https://amerika21.de/analyse/3252/militramerikas , abgerufen am 17.2.2025.
(6) Fabio Vighi: COVID-19 und die Pandemie als Amoklauf des Finanzkapitals, S. 62 (pad-Verlag, Bergkamen 2024).
(7) Ebd., S. 67
Hinweis: Das Essay ist der vierteTeil einer vierteiligen Beitragsserie, die unter anderem in der Schweiz im Magazin Zeitpunkt und bei Manova veröffentlicht wurde.
Symbolfoto: Sergey Kotenev, Unsplash.com