Die Welt taumelt, und Europa fĂ€llt von einer Krise in die nĂ€chste. Alles scheint aus den Fugen zu geraten. Um die Entwicklungen zu stoppen, die zu Kriegen und mit tödlicher Sicherheit ins soziale Chaos fĂŒhren, muss das Unausweichliche geschehen: Die Herrschaft von Menschen ĂŒber Menschen muss ein Ende finden. Einen notwendigen Schritt benannte 1932 der Antimilitarist und Pazifist Erich MĂŒhsam: die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Diese Form der Organisation, die MachtausĂŒbung der wenigen ĂŒber die vielen, hatte sich schon zu Kaisers Zeiten ĂŒberlebt.
Es gibt genug gute GrĂŒnde, um die ReiĂleine zu ziehen und eine neue Form ökonomischer und gesellschaftlicher Organisation zu etablieren: der Hunger in der Welt, das Elend vor der HaustĂŒr, der Völkermord in Gaza, der Krieg in der Ukraine oder die politische Klasse in Berlin, Paris oder BrĂŒssel, die sich in ihrer irrationalen Kriegsrhetorik zu ĂŒbertreffen sucht, wĂ€hrend Pauperisierung und soziale Deprivation die Gesellschaften zerfressen.
Den Dritten Weltkrieg herbeizureden, was Ablenkung vom Offensichtlichen verschaffen mag, ist aber unnötig. Er tobt bereits seit 2001, als nach den AnschlĂ€gen vom 11. September der damalige US-PrĂ€sident George W. Bush im Stil eines christlichen Fundamentalisten den âKreuzzugâ gegen den internationalen Terrorismus verkĂŒndete. Der âWar on Terrorâ, das Alibi, um jede Form von legitimen Widerstand gegen Unrecht und Tyrannei auszuradieren, ganze Regionen in Schutt und Asche zu legen, Millionen Menschen zu ermorden und den Ausnahmezustand zur Regel zu erklĂ€ren, ist Selbstzweck. Es gilt, ein System der Herrschaft zu erhalten, um der Herrschaft willen. Eben wie ein Krieg, der gefĂŒhrt wird, um den Krieg zu ernĂ€hren, wie es in Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie heiĂt.
Das alles sind aber nur Momentaufnahmen im Lauf der Menschheitsgeschichte, die einem unausweichlichen Wendepunkt entgegenstrebt. Es geht um einen Aufstand der Gedanken, eine Revolte des Verstandes, eine Revolution des Bewusstseins. Es geht um einen Zivilisationssprung, der die Herrschaft von Menschen ĂŒber Menschen beendet und einem Ordnungsprinzip Platz macht, das auf gegenseitiger Verantwortung beruht und ohne Zwang, Herrschaft und Gewalt auskommt: die Anarchie. Macht,
Gewalt und Zwang
Der 1934 ermordete Antimilitarist, Pazifist und Anarchist Erich MĂŒhsam benannte den dafĂŒr notwendigen evolutionĂ€ren Schritt: die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Sein gleichnamiges Werk (1) erschien 1932 als Artikelserie, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und wenige Jahre vor Ausbruch des sich bereits abzeichnenden Zweiten Weltkriegs.
Jeder Staat ist per Definition ein politisches Gewaltgebilde. In ihm wird Herrschaft von Menschen ĂŒber Menschen ausgeĂŒbt. UnabhĂ€ngig davon, ob das installierte Herrschaftssystem Monarchie, Demokratie oder Diktatur genannt wird oder ihm Parteien, ein Kaiser, Kanzler oder Hitler vorstehen, ist der Staat als einseitige Ausformung organisierter Macht zu begreifen.
MĂŒhsam schreibt:
âMacht ist ein Dauerzustand von Gewalt und Zwang zur Niederhaltung von GleichheitsgelĂŒsten, ist das von oben her verfĂŒgte Zwangs- und Gewaltmonopol der Herrschaft.â
Der kapitalistisch durchdrungene Staat, in der Gegenwart globaler Standard, dient mit Haut und Haaren, mit Recht, Gesetz und Polizei jedem Regime und zwei ĂŒbergeordneten Interessen: dem Verlangen von Konzernen und der Industrie nach AbsatzmĂ€rkten und der unersĂ€ttlichen Gier des Kapitals nach Rendite. Das fĂŒhrt unweigerlich zu Konfrontationen und Krieg.
Der Staat ist das Werkzeug, um den planvollen Kampf um Einfluss, Ressourcen, Land und MĂ€rkte auf andere Regionen, Staaten und Menschen auszudehnen â sie zu umklammern und festzuhalten wie eine Spinne, sie auszuplĂŒndern und zu benutzen, solange es den Zielen dienlich ist.
Afrika als Beute der europĂ€ischen Staaten und das Deutsche Kaiserreich mit seinem Kolonialismus und Imperialismus stehen exemplarisch fĂŒr eine Vorgehensweise, die bis in die Gegenwart anhĂ€lt. Lediglich die Methodik verfeinerte sich: Missionare, Handel, PachtvertrĂ€ge, SchĂŒrfrechte, willkĂŒrliche Grenzziehungen, militĂ€rische Aktionen, Krieg und Völkermord natĂŒrlich, Installation dienlicher Despoten und Regime, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Vorhut, Entwicklungshilfe als verlĂ€ngerter Arm, der fĂŒttert, aber nie satt macht, Freihandelsabkommen und so weiter. Das Spiel lĂ€uft, bis sich die Opfer zu befreien suchen. Das passiert gerade im globalen SĂŒden.
Staat, AutoritÀt und Krieg
Wenn der Zugriff auf Kolonien und die Ausbeutung der Lohnarbeit nicht mehr ausreichen, um die ĂŒbergeordneten Interessen zu befriedigen, nehmen die Spannungen zwischen den konkurrierenden Staatsgebilden zu. Sie alle verfolgen identische Absichten â das wird zum Problem. WĂ€hrend sich die WidersprĂŒche im Inneren verschĂ€rfen und sich die soziale Ungleichheit ausbreitet, wird Krieg zur Option nach auĂen. Am Materialismus, der dies hervorbringt, ĂŒbt Erich MĂŒhsam entsprechende Kritik:
â(âŠ) Wir glauben ferner, dass die Verrottung der kapitalistischen Gesellschaft, ihr hilfloses Herumtorkeln in der eigenen Misswirtschaft, ihr Zufluchtsuchen bei Kriegen und immer brutalerer Knechtung der enteigneten und entrechteten Massen ihre tiefste Ursache im Widersinn des nur materialistischen FĂŒhlens, Denkens und Handelns hat.â
Bleiben wir bei der Monarchie, die Erich MĂŒhsam erlebte. Sie stĂŒtzte sich bei ihrer MachtausĂŒbung natĂŒrlich auf den Beamtenapparat, die Justiz, das MilitĂ€r, die Polizei und die Bourgeoisie. Aber sie konnte sich auch auf eine Bevölkerung verlassen, die den AutoritĂ€ten, ihren Titeln, Ămtern und Posten mehr vertraute als dem eigenen gesunden Menschenverstand oder diesen den Anordnungen und Befehlen der AutoritĂ€ten unterordnete. Erst das ermöglicht Herrschaft und am Ende jeden Krieg. Erich MĂŒhsam bemerkt:
âMacht bezeichnet somit die tatsĂ€chliche Gegebenheit, die aus jedem zentralistischen, obrigkeitlichen, gesetzgebundenen, staatlichen VerhĂ€ltnis erwĂ€chst. Als sittlicher Grundlage ihrer Herrschaftsbefugnisse bedient sie sich des den Menschen eingeimpften Glaubens an die Berechtigung und Notwendigkeit der AutoritĂ€t. AutoritĂ€t ist die MaĂgeblichkeit fremder Erkenntnis fĂŒr das eigene Urteil.â
Mit âHurraâ zog das beherrschte Volk in den Horror des Ersten Weltkriegs. FĂŒr Vaterland, Glanz, Gloria und Kaiser wurde zur Waffe gegriffen, schossen Arbeiter auf Arbeiter und brachten sich gegenseitig um. Die höheren Offiziere aus den Reihen der Bourgeoisie dirigierten aus sicherer Entfernung das Sterben in den SchĂŒtzengrĂ€ben. Abermillionen Menschenleben wurden geopfert. Ein gigantisches Heer aus psychischen und physischen KrĂŒppeln, die Schlacke des Graben- und Giftgaskrieges, sĂ€umte nach der Niederlage 1918 die StraĂen des Deutschen Reichs.
Die Novemberrevolution kam, der Kaiser dankte ab, die Sieger forderten Gebietsabtretungen, AbrĂŒstung und gewaltige Reparationszahlungen. Die Wirtschaft konnte sich kaum erholen, sodass die Arbeitslosigkeit anstieg. UnzĂ€hlige Menschen lebten in Armut. Die Weimarer Republik mit ihrem VerstĂ€ndnis von Demokratie rĂŒckte an die Stelle der Monarchie. Die bewĂ€hrten Beamten und Juristen und sonstige AutoritĂ€ten verblieben weitestgehend in Amt und WĂŒrden.
Der Obrigkeitsstaat mit seiner Monarchie lebte im neuen Staat mit seiner Demokratie weiter und erfĂŒllte seinen alten Zweck: der Herrschaft dienen. SpĂ€testens an dieser Stelle offenbart sich eine unĂŒberwindbare Bruchlinie.
âEin obrigkeitlich zugerichtetes Verwaltungswesen ist Regierung, BĂŒrokratie, Befehlsgewalt, und dies ist das Merkmal des Staates; eine auf Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit aufgebaute Gemeinschaft ist in den Grenzen der rĂ€umlichen Verbundenheit der Menschen Volk, als allgemeine Lebensform der Menschheit betrachtet, Gesellschaft. Staat und Gesellschaft sind gegensĂ€tzliche Begriffe; eins schlieĂt das andere aus. (âŠ.) Staat ist nichts anderes, kann nichts anderes sein als zentralisierter AusfĂŒhrungsdienst einer vom Volk gelösten Klasse zur Beherrschung des entrechteten und zur beherrschten Klasse erniedrigten Volkes.â
SelbstverfĂŒgung gegen NormalitĂ€t des Absurden
Die passende Antwort auf diese GegensĂ€tzlichkeit, die auf einem irreparablen Strukturfehler beruht, der sich eben nicht durch neue Parteien, FĂŒhrer oder sonstige Regierungen lösen lĂ€sst, ist folgerichtig die von Erich MĂŒhsam geforderte Befreiung der Gesellschaft vom Staat.
âDie Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maĂgebliche Wesensmerkmal der Anarchie, oder um dieser verneinenden ErklĂ€rung die bejahende Form zu geben: Der Anarchismus kĂ€mpft anstatt fĂŒr irgendeine Form der Macht fĂŒr die gesellschaftlich organisierte SelbstverfĂŒgung und SelbstentschlieĂung der Menschen.â
Peter Kropotkin (1842 bis 1921) beschrieb die Grundlagen der anarchistischen Gesellschaft in seinem Werk âDie Eroberung des Brotesâ (2). Freiwilligkeit und gegenseitige Hilfe bilden das Fundament. Ihr Zweck es ist, durch gemeinschaftlich organisierte Produktion einen Wohlstand zu erschaffen, der allen zugutekommt, weil die Verteilung sozialen Notwendigkeiten folgt und Privilegien durch Amt, Zepter oder Krone abgeschafft sind.
Die anarchistische Ordnung benötigt keinen Zwang, keine Gewalt und folglich auch keinen König, Kaiser oder Vorstandschef, der das 162-Fache dessen bekommt, was demjenigen, der die Arbeit erledigt, als Entgelt zugebilligt wird (3).
Dass eine werdende Mutter mehr Aufmerksamkeit, UnterstĂŒtzung und Ressourcen benötigt als ein Beamter, dessen Tagwerk im AusfĂŒllen von Formularen besteht, sollte als Beispiel genĂŒgen, um den Unterschied zur kapitalistischen Ordnung zu verdeutlichen. Sie ĂŒberalimeniert und mĂ€stet ihre Diener, schĂ€mt sich aber nicht, Schwangere, Kinder und Gebrechliche im Mangel verharren zu lassen, weil Beamte diesen Mangel verwalten, sonst wĂ€ren sie ohne BeschĂ€ftigung. Es ist diese NormalitĂ€t des Absurden, die keine Zukunft hat.
Die Anarchie ist viel wirkmĂ€chtiger. Sie wird getragen von der inneren Ăberzeugung jedes Einzelnen, die durch sein Handeln in der Praxis fĂŒr jeden sichtbar wird â seine Verantwortung fĂŒr sein eigenes und das Wohlergehen aller anderen, seiner Selbstverpflichtung gegenĂŒber der Gesellschaft, die er gemeinsam mit den anderen begrĂŒndet und gestaltet, um Mangel zu beseitigen. Das mĂŒndet in den kommunistischen Anarchismus, der sich nicht zu einem Staat verfĂŒhren lĂ€sst, in dem sich durch Parteien, Politiker und ĂŒberdauernde FunktionstrĂ€ger die Macht mehr und mehr verdichtet, wĂ€hrend sie die Freiheit erdrosselt. Der Ausgangspunkt ist kleinteiliger angelegt.
Gemeinschaften, ob Betrieb, Schule oder Dorf, mit kollektiver und basisdemokratischer Selbstverwaltung, reprĂ€sentiert von gewĂ€hlten RĂ€ten oder Vertretern, die jederzeit abgewĂ€hlt werden können, bilden Netzwerke. Diese kooperieren bei Bedarf ihrerseits mit anderen Netzwerken, sodass sich aus einem natĂŒrlichen Prozess der Vernetzung und Kooperation eine rĂ€tedemokratische Organisationsstruktur entwickelt, die atmet und lebt. Dieser Vorgang, der die Lust an der Freiheit spiegelt, schreitet voran. Ăberall, in StĂ€dten, Gemeinden, Wohnblöcken oder im Verborgenen, entstehen kleine Einheiten und Strukturen, die sich beileibe nicht alle als anarchistisch verstehen, wohl aber nach Gemeinschaft, Vernetzung und Zusammenarbeit suchen. Damit beginnt es.
Und auch wenn der Ansatz von Peter Kropotkin und die Forderung von Erich MĂŒhsam heute in gröĂeren Dimensionen gedacht und auf Strukturen wie die EuropĂ€ische Union, die Monopole und das globalisierte Finanzkapital und deren Methodik ausgedehnt werden mĂŒssen, Ă€ndert sich an einer historischen Erfahrung nichts:
Macht endet, wenn die Beherrschten ihren Herrschern nicht mehr glauben, ihnen nicht mehr zuhören und sich von ihnen abwenden. Und die Strukturen der Herrschaft zerfallen, wenn die Beherrschten ihre eigenen Strukturen errichten.
Schauen Sie sich um … und Sie sehen genau das.
Quellen und Anmerkungen
(1) Erich MĂŒhsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Veröffentlicht 1933 im Fanal Sonderheft (Fanal-Verlag, Berlin). Erstmals erschienen inDie Internationale. Zeitschrift fĂŒr die revolutionĂ€re Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau. Herausgegeben von der Freien Arbeiter-Union Deutschlands, Anarcho-Syndikalisten. Berlin. Jahrgang 5. Heft 6 (Juni 1932), Heft 7 (Juli 1932) und Heft 8 (August 1932). VerfĂŒgbar als PDF auf https://libertaereszentrum.de/uploads/BdGvS.pdf (abgerufen am 9. Mai 2025).
(2) Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes (französischer Originaltitel: La ConquĂȘte du Pain); Paris 1892.
(3)SPIEGELWirtschaft (23. Januar 2023): Verteilung des Wohlstands. So ungleich ist Deutschland. Auf https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/so-ungleich-ist-deutschland-loehne-steigen-staerker-als-kapitaleinkommen-a-bb09919c-6231-433e-9256-bc3e65ec41ce (abgerufen am 9. Mai 2025).
Text: Gunther Sosna
Hinweis: Das Essay erschien unter anderem bei Manova.news.
Foto: Shantanu Kumar, Unsplash.com